Zeitzeuge gibt intensive Einblicke – Erinnerungskultur

Staatsanwalt Gerhard Wiese mit Moderatorin Anika Wagner.
Staatsanwalt Gerhard Wiese mit Moderatorin Anika Wagner.
  • vonSascha Jouini

Lich (jou). Viel zu berichten hatte der 91-jährige Zeitzeuge Gerhard Wiese am Sonntag im ausverkauften Kino Traumstern im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum 9. November 1938. Die Erinnerungen des Staatsanwaltes flossen ein in Giulio Ricciarellis Film „Im Labyrinth des Schweigens“ (2014) über die deutsche Vergangenheitsbewältigung Mitte der 1960er Jahre. Moderatorin und Traumstern-Mitarbeiterin Anika Wagner hatte Wiese durch Isabel Gathofs im kommenden Jahr erscheinenden Dokumentarfilm „Fritz Bauers Erbe. Die NS-Prozesse im Spiegel der Zeit“ kennengelernt. Wiese und zwei weitere Frankfurter Staatsanwälte, die Anklage gegen Nationalsozialisten erhoben hatten, werden in Ricciarellis Spielfilm zur fiktiven, von Alexander Fehling verkörperten Figur Johann Radmann. Das Drama beleuchtet die Auschwitz-Prozesse und verdeutlicht, in welchem Maße die mutigen Juristen auf Widerstand stoßen.

Wiese hielt es zunächst für unmöglich, dass eine Münchner Produktionsfirma einen Film zu Auschwitz dreht, ehe sich die Pläne konkretisierten und er dem Team „an einem langen, interessanten Abend“ alle Fragen beantwortete. Gedreht worden sei in Bayern und Hessen; bei den in Höchst spielenden Frankfurter Szenen habe er intensive Einblicke in die Dreharbeiten gewonnen.

Nach dem zweiten Staatsexamen hatte sich Wiese bei der Justiz beworben und fing 1960 bei der Fuldaer Staatsanwaltschaft an, ehe er über Zwischenstationen nach Frankfurt gelangte. Generalstaatsanwalt Fritz Bauer habe „voller Ideen und Pläne“ gesteckt und wollte den juristischen Nachwuchs fördern, lobte er seinen einstigen Vorgesetzten.

Von den Konzentrationslagern habe er erstmals in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gehört, konnte sich damals allerdings nicht vorstellen, dass Deutsche derartige Gräueltaten anrichten können, ehe er von der Wirklichkeit eingeholt wurde, räumte Wiese ein. Während der Arbeit an der Anklageschrift gegen die NS-Verbrecher Wilhelm Boger und Oswald Kaduk bedrückte es ihn sehr, sich täglich mit Mord und Totschlag auseinanderzusetzen. Die Zeugen seien nach 1945 erstmals nach Deutschland gekommen und hätten sich überwinden müssen, über traumatische Erlebnisse zu sprechen.

Schockieren ließ Wieses Schilderung des Schicksals einer Familie mit Zwillingstöchtern, die menschenverachtenden Experimenten des Arztes Josef Mengele zum Opfer fielen; die Geschichte wird im Spielfilm eindringlich thematisiert. Wiese reiste im Dezember 1964 mit Kollegen nach Auschwitz, um Zeugenaussagen auf ihre Plausibilität zu überprüfen. Die Schwierigkeit lag darin, einen engen Zeitrahmen einzuhalten – die Verhandlung durfte nur für höchstens zehn Tage unterbrochen werden.

Genaues Erinnerungsvermögen

Mit genauem Erinnerungsvermögen ging Wiese auf das Revisionsverfahren und weitere Prozesse ein. Dass die Aufarbeitung der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland schleppend verlief, führte er auf die nicht besonders große Neigung des Volkes zurück, für das es wichtiger schien, den Hunger zu stillen, Arbeit zu finden und den Ehemann aus der Kriegsgefangenschaft zurückzubekommen. Zum anderen hätten die Deutschen den Eindruck gewonnen, von den Alliierten bei der juristischen Auseinandersetzung die Arbeit abgenommen bekommen zu haben. Wiese wertete den größten Nachkriegsprozess als Erfolg. Bauer habe sein Ziel erreicht: Niemand könne mehr die Verbrechen der Nationalsozialisten leugnen. Gegen Dummheit sei freilich „kein Kraut gewachsen“.